96kHz-Serie "Kleines Gesangs-ABC für ProduzentInnen"

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Teil 4: Stimme und Medikamente

(Artikelserie aus dem 96kHz.de-Online-Magazin 2009-2010)


Heute etwas „allgemeiner“: Nicht etwa, weil das Thema unwichtig ist – sondern, weil ich kein Arzt bin und ich folgerichtig keine Aussagen über Medikamente machen darf und werde. Medikamente und Aussagen über solche gehören zweifelsohne ins entsprechende Fach: Zum Arzt oder zur Ärztin! Daher hier nur eine sehr ernst gemeinte – aber ebenso grundsätzlich gehaltene – Sensibilisierung für dieses Thema: Wenn SängerInnen wirklich „richtig krank“ sind, sollten diese immer – mit Blick auf die eigene Stimmgesundheit und die weitere Karriere (übrigens auch die ihrer ProduzentInnen) – den Studiotermin verschieben oder das Konzert absagen. Ich weiß: Dies ist im Einzelfall oft problematisch, aber grundsätzlich der richtige Weg. Einmal übernommen, kann bereits einmal zuviel sein. Ich halte überhaupt nichts von “Gesundspritzen um jeden Preis” – auch wenn dies „im großen Wasser“ der Branche immer wieder vorkommt. Ausfallgagen von z.B. 50 000 Euro pro Abend lassen manchen Manager oder Produzenten mit der Spritze liebäugeln – und so wie es einst dem fiktiven „Pink“ im Pink Floyd-Film „The Wall“ erging, so widerfuhr es leider auch schon so manchen „realen“ KünstlerInnen:

Ich hätte meiner Stimme keinen Gefallen getan, wenn ich trotzdem aufgetreten wäre. Man kann sich auf diese Art nämlich regelrecht ruinieren.

Anneliese Rothenberger

Ok. Just a little pinprick, There´ll be no more … aaaaaahhhh! But you may feel a little sick. Can you stand up? I do believe it´s working – good. That´ll keep you going for the show! Come on it´s time to go!

Pink Floyd - Comfortably Numb

Das geht schon... ?

Zweifellos: Man kann durch technisch richtiges Singen viele Indispositionen, wie zum Beispiel eine leicht verstopfte Nase (welche uns SängerInnen klanglich bereits ungemein zusetzt!), lindern: Alles was jedoch die Stimme direkt – also z.B. die Stimmlippen – betrifft, wird gefährlicher. Für sonstige "schwere Erkrankungen" gilt selbstverständlich ähnliches: SängerInnen sind immer "selbst das Instrument" – ihr Klang ist von ihrer "ganzheitlichen Verfassung" bedingt. Hier sollte immer an den Menschen – und nicht nur ans Geld gedacht werden. By the way: Die etymologische Herkunft des Wortes "gesund" führt über "geschwind" schließlich zur Bedeutung "stark und kräftig". That´s it: Genau dies sollten KünstlerInnen für Ihre Performance sein ;-)

„Ich hab‘ da mal ne Frage...“

Vor einiger Zeit mailte mir eine Künstlerin, deren Betreuung ich kurz zuvor übernommen hatte, bezüglich der "stimmlichen Überlastung", welche sie zu mir geführt hatte die Frage: "Ich bin heiser und habe Tabletten von Künstler "XY" bekommen. Die sollen sofort bei Stimmproblemen helfen und die Stimme außerdem um zwei Oktaven erweitern! Soll ich die mal nehmen?" Ich nenne hier bewusst weder den Namen des Medikamentes (welches natürlich in Deutschland nicht zu beziehen ist – die entsprechende Künstlerin arbeitet im Ausland) noch den von Künstler "XY".

Bei sowas könnte ich in die Luft gehen – zumal der "Pillen-empfehlende Künstler XY" in diesem Fall eine "aktuelle, internationale Chart-Platzierung" ist (oder war? Vielleicht ist er bereits "high-ser"). Sowas ist schlicht verantwortungslos und völliger Quatsch! Leute die zur "vermeintlichen" Range-Erweiterung ihrer Stimme (so was ist Unsinn) Wundertabletten einnehmen, können folgerichtig wahrscheinlich auch "unter Koks schneller einkaufen".

Ich bitte ausdrücklich alle Beteiligten (von den KünstlerInnen bis zu den ManagerInnen) um einen verantwortungsvollen Umgang mit solchen Problemen und um Konsultierung entsprechender FachärztInnen – bzw. um eine vorhergehende vernünftige Stimmausbildung, damit "das Kind gar nicht erst in den Brunnen hinein fällt".

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Leute die zur Erweiterung ihres Stimmumfanges Wundertabletten einnehmen, können folgerichtig wahrscheinlich auch "unter Koks schneller einkaufen".

Nur 'ne Tablette?

Abgesehen von solchen angeblichen Wunderpillen sind sich allgemein Hals- Nasen-Ohren-ÄrztInnen und PhoniaterInnen einig: Auch die Einnahme bestimmter (an sich harmloser) Medikamente vor dem Singen sollte man vermeiden, da dies je nach Fall eine Schädigung der Stimmlippen nach sich ziehen kann. Insbesondere Aspirin sei hier erwähnt (Gefahr von Einblutungen in die Stimmlippe unter zu großer stimmlicher Anstrengung – mit möglicher dauerhafter Schädigung der Stimme). Ein recht prominentes Fallbeispiel zum Thema "Aspirin" ist Tokio Hotel Sänger Bill Kaulitz: Aufgrund der Einnahme von Aspirin musste dessen Stimmband-OP im März 2008 zunächst verschoben werden, bis sich das Medikament im Körper abgebaut hatte. Bei Stimmbenutzung bitte die Finger von Aspirin lassen.

In meinen DERGRUBE_Pro-Coaching´s (Intensivcoaching für ProfisängerInnen) arbeite ich mit entsprechenden FachärztInnen und LogopädInnen zusammen und habe über die Jahre diverse Alternativ-Medikamente kennengelernt. Was aber für wen passt, muss dabei immer wieder individuell abgeklärt werden. Ich bitte dies also im Einzelfall immer "individuell" bei SpezialistInnen zu erfragen – ich darf und kann hier besagter Weise keine Medikamenten-Empfehlungen machen. Jeder Mensch reagiert anders.

Verschleimt?

LogopädInnen warnen im Zusammenhang mit der Stimmnutzung auch immer wieder vor der dauerhaften Einnahme von "Schleimlösern", da Schleim – so hinderlich er vor dem Mikro ist – durchaus eine schützende Funktion für die Stimmlippen hat. Eine „dauerhafte aggressive Entfernung“ desselben kann sich also ebenfalls stimmgefährdend auswirken.

Für ein "sanftes, punktuelles Schleimlösen" gibt es entsprechende Stimm- und Körperübungen, sowie diverse Teesorten und Teemischungen – wozu beispielsweise jedoch keineswegs der "berühmte Kamillentee" zählt:

Denn insbesondere das Inhalieren von Kamillendämpfen vor dem Singen sollte tunlichst unterlassen werden, da dies die Stimmlippen aufweichen und verletzlich machen kann.

Von jeder Art von Doping, Aufputschen, Anabolika oder ähnlichem ist selbstverständlich grundsätzlich abzusehen (hatten wir ja bereits weiter oben bei "Künstler XY").

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Fazit:

Die Frage "Nimmst Du zur Zeit irgendwelche Medikamente?" ist im Studio schnell gestellt – und kann evtl. "ein böses Erwachen sechs Wochen später in der Produktion" ersparen. Führen Sie doch einfach beim ersten Kennenlernen ein "Vorgespräch" ein, in dem solche Fragen gestellt werden können: Es dient der langfristigen Stimmgesundheit Ihrer KünstlerInnen und dem professionellen Gelingen Ihrer Produktion – und damit letztlich der nachhaltigen Qualität Ihrer "Produkte". Außerdem betont es nebenbei Ihre professionelle Herangehensweise.

Feingefühl wird auch hier selbstverständlich großgeschrieben: Die Frage nach Medikamenten kann schnell in sehr persönliche Bereiche führen. Bedrängen Sie Ihre KünstlerInnen also nicht unnötig – erklären Sie sachlich den Hintergrund der Frage – und bitten Sie Ihre KünstlerInnen einfach um deren "persönliche Nachfrage bei FachärztInnen ihrer Wahl".

Auch im nächsten Artikel wird es um die "ein oder andere Pille" gehen – dann betrachten wir das Thema "Stimme und Hormone – von der "Pille" bis zu den Wechseljahren". Bis dahin: Bleiben Sie gesund ;-) (tg)

Info zu 96kHz:

Seit 2015 ist die Website www.96kHz.de offline.

Die hier archivierte Vocalcoaching-Serie 
war von 2009 bis Anfang 2015 im Onlinemagazin auf 96kHz.de zu lesen.
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