96kHz-Serie "Kleines Gesangs-ABC für ProduzentInnen"

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 In 10 Schritten zum gelungen Vocaltake?

Teil 1: Vorweg – Vom Sinn und Unsinn der Gesangstechnik

(Artikelserie aus dem 96kHz.de-Online-Magazin 2009-2010)


In 10 Schritten zum gelungenen Vocaltake? Geht´s wirklich so einfach? Machen wir uns nichts vor: Eine vernünftige Leistung benötigt eine gute Ausbildung – oder zumindest eine bestechende Naturstimme als Grundvoraussetzung. Sie können ja auch dem Gitarristen nicht erst im Studio A-Dur beibringen: Aber Sie können darauf hinweisen, dass er frische Saiten aufgezogen – und sich die Finger gewaschen hat :-) Und so ähnlich verhält es sich auch mit den Damen und Herren SängerInnen: Es geht mir in dieser Serie also um die immer wieder an mich gestellte Frage: "Welches Wissen nützt mir als ProduzentIn bei der Arbeit mit SängerInnen?" Sicher: Mit 10 Tipps „Singen lernen“ geht nicht. Aber bestmögliche Rahmenbedingungen für den gelungen Take schaffen – das ist durchaus möglich.

Kunst kommt von Können. Käme es von Wollen, so hieße sie Wulst.

Friedrich Nietzsche

Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen.

Arnold Schönberg

Vorweg – Vom Sinn und Unsinn der Gesangstechnik

Wie man der Einleitung vielleicht schon entnehmen kann, geht es mir im Folgenden weniger um "handwerkliche und gesangstechnische Ausführungen". Ich möchte Sie vielmehr einladen, mich in die weite Welt der "ganzheitlichen Stimmhygiene" zu begleiten: In zehn vierzehntägig erscheinenden Artikeln werde ich erläutern, was man unter Stimmhygiene versteht – und wie sich beispielsweise: Essen und Trinken, der Schlaf, die Kleidung, Medikamente, die Hormone, das Pausenverhalten etc. auf die Stimme auswirken. Darüber hinaus werde ich außerdem einige Tipps zur "Haltung vor dem Mikrofon" und zum Thema "Kopfhörer-Sound" geben. Eine "gesangs-philosophische Betrachtung zum Thema Raumklang und Hall" wird die Serie schließlich abrunden und beschließen.

Ein paar Worte zum Geleit

Bevor ich jedoch beginne, noch ein paar Worte vorweg: Der Umfang der "stimm-hygienischen Hinweise" kann eventuell bei manchen LeserInnen zur einseitigen Erkenntnis führen: "Dann darf man ja gar nix mehr..." und zu Fragen wie: "Wenn man sooo viel beachten muss, wie konnte dann mancher "Todes-Metal-Sänger" jemals etwas einsingen?"

Hierzu sei vorweg bemerkt, dass "künstlerischer Wert" selbstverständlich nicht immer Hand in Hand mit "gesangstechnisch einwandfreiem Stimmumgang" gehen muss: In der Musik (wie in jeder Kunstform) ist immer wieder auch ein "Nebeneinander von technisch korrekt und künstlerisch hochwertig" sowie auch von "technisch unkorrekt und künstlerisch dennoch hochwertig" zu erkennen – und beide Lager schließen sich in manchen Fällen auch schon mal aus: Mancher "Ungelernte" erschafft da mit brutaler Stimm-Vergewaltigung tolle Songs und so mancher "gut ausgebildete Berufssänger" erreicht trotz scheinbar perfekter Stimme nicht das Herz der ZuhörerInnen.

Im günstigsten Falle kann und sollte jedoch – meiner Ansicht nach – immer beides zusammen kommen, beziehungsweise "zeitlich" (im Sinne einer Ausbildung betrachtet) "nacheinander": Denn "Kunst beginnt wo Technik endet" – so sagt es ein altes Sprichwort.

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Ich finde, man sollte sein Handwerk als Basis so beherrschen, "dass man es wieder vergessen kann". Dies schließt "musik-polizeiliche Technik-Verkopfung" aus – und überlässt der intuitiven, musikalischen Gestaltung die Bühne. Sie denken ja beim "leckeren Essen im Restaurant" auch nicht über Ihren gleichzeitigen Umgang mit Messer und Gabel nach, sondern konzentrieren sich auf den Geschmack des Essens: Das Erlernen dieser Handwerkstechnik (Messer und Gabel) war aber einst ein "wirkliches Problem" für Sie ;-) Um Missverständnissen vorzubeugen, sei also folgendes vorweg geschickt:

Eine Frage der Nase? Alles geht?!!

Ja! Grundsätzlich finde ich, dass jedes Geräusch, welches eine Stimme erzeugen kann, den Stimm-BesitzerInnen auch zur künstlerischen Gestaltung zur Verfügung steht. Ich habe mich über die Jahre speziell auf die "Beibehaltung des individuellen Sounds" meiner KünstlerInnen sensibilisiert und arbeite dabei "zweigleisig": 

Zunächst wird die korrekte Stimmbenutzung erlernt: In ihrer bestmöglichen Resonanz-Fähigkeit und physiologischen "Unbedenklichkeit". Parallel dazu wird der Sound eines eventuell bereits künstlerisch-individuell genutzten "falschen Klanges" als nutzbare Ausdrucksmöglichkeit erhalten:

Man kann wie Jan Delay in die Nase singen – muss es aber nicht! Man kann"wie Elvis singen" – aber auch "wie man selbst". Diese "Zweigleisigkeit" hat ihre Grenzen jedoch klar gesteckt:

Dort wo die Stimmnutzung die rein "klang-ästhetischen Geschmacksbereiche" verlässt und zu physiologischen Schäden führt ist – von meiner gesangspädagogischen Warte aus – Schluss. Hier sollten auch KünstlerInnen und Label an einer dauerhaften gesunden Lösung interessiert sein. Aber: Wer sich seine Stimme bewusst und mit "Rock´n Roll-Überzeugung" á la "lieber nur drei Jahre mal richtig krachen lassen..." verheizen will – kann dies selbstverständlich machen: Er oder sie muss dies für sich selbst entscheiden und gegebenenfalls mit den Konsequenzen leben: 

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Zurechtsaufen?

Die Grundentscheidung, sich "eine Stimme zurecht zu schreien oder zurecht zu saufen" bleibt letztlich somit immer eine individuelle und bewusste Entscheidung des jeweiligen mündigen Menschen. Dies kann ich – jenseits meiner "stimm-handwerklichen Überzeugung" – immer voll akzeptieren (!) und absolut respektieren. Somit kann ich solchen KünstlerInnen auch durchaus begleitend als Coach zur Seite stehen – wie gesagt: Was der Mensch mit seiner Stimme macht, ist seine freie Entscheidung: Ich kann nur aufklären, beraten und gegebenenfalls alternative Wege aufzeigen. Was wäre – andererseits – die Pop- und Rockwelt ohne die künstlerische Leistung von "rauchigen (beschädigten) Stimmen" wie Joe Cocker, Tom Waits & Co?

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Whisky-gegerbt

Auch ich höre diese "beschädigten Stimmen" durchaus gerne – obschon ich den Glücksspielweg solcher Stimmnutzung, deren Grad der Stimm-Erkrankung "hoffentlich die Dauer der Karriere durchhält", nicht grundsätzlich gutheißen kann. Sicher: Beim Onkel Joe hat´s geklappt – der knattert da oben wahrscheinlich jetzt mit dem guten Lemmy um die Wette – "die Anderen" haben Sie und ich leider nie kennengelernt, weil deren Weg lediglich in die nächste HNO-Praxis und zum Phoniater führte.

Es geht in meiner ausbildenden Arbeit als Stimmbildner also logischerweise immer um die "physiologisch einwandfreie Stimmfunktion" – und niemals um Anweisungen wie "Kauf Dir mal ´ne Flasche Whisky..." (obschon ich auch hierfür den ein oder anderen guten Tipp hätte :-) harr).

Die einzelnen LeserInnen mögen sich aus dem Folgenden also herausnehmen, was in ihr persönliches stimmlich-musikalisches Weltbild hineinpasst – aus Sicht der professionellen Stimmgesundheit und der optimalen Stimmresonanz gilt es jedoch zweifellos Einiges zu beachten. In diesem Sinne – auf geht's zu Teil 2 dieser Serie:

Info zu 96kHz:

Seit 2015 ist die Website www.96kHz.de offline.

Die hier archivierte Vocalcoaching-Serie 
war von 2009 bis Anfang 2015 im Onlinemagazin auf 96kHz.de zu lesen.
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